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28 mai 2013 2 28 /05 /mai /2013 14:31

peer steinbrueck 

 

Europapolitische Grundsatzrede des Kanzlerkandidaten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Peer Steinbrück aus Anlass der Verleihung des Preises „Das politische Buch 2013“ der Friedrich-Ebert-Stiftung an Robert Menasse: „Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas" am 14. Mai 2013 in Berlin

 

Pour les germanistes, le texte, transmis par Jo Leinen, de l'allocution du candidat SPD à la chancellerie Peer Steinbrück lors de la remise du prix du livre politique de la fondation Friedrich-Ebert à l'écrivain autrichien Robert Menasse  pour son livre  "le messager Européen. La colère du peuple et la paix en Europe"

 

sur l'auteur: http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Menasse

lu dans FAZ  http://www.presseurop.eu/fr/content/article/3632061-pour-une-republique-europeenne

 


"Lieber Kurt Beck,

 sehr geehrter Herr Dr. Hohlfeld,

 sehr geehrter Herr Menasse,

 meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

 manche brauchen viele Worte, um Menschen von der Idee des geeinten Europas zu über-zeugen. Robert Menasse braucht dazu nur 12 Zeilen. Ihm reicht ein Bild. Er schreibt: “Wenn man auf einer Europakarte alle politischen Grenzen, die es im Lauf der Geschichte je ge-geben hat, mit einem schwarzen Stift ein¬zeichnet, dann liegt am Ende über diesem Kon-tinent ein so engmaschiges Netz, dass es fast einer geschlossenen schwarzen Fläche gleich¬kommt. (…) Wenn man dann auf dieser Karte für jeden Krieg, der in Europa je stattgefunden hat, mit einem roten Stift eine Linie zwischen den kriegführenden Parteien zieht, Schlacht¬felder und Frontverläufe markiert, dann ver¬schwindet das Netz der Grenzen völlig unter einem rotgefärbten Feld.“ Es ist ein starkes Bild, denn es verteidigt nicht nur die Idee des geeinten Europas, sondern es zeigt den ganzen Wahnwitz der Idee eines nicht geeinten Europas.

 

 

 II: Die historische Begründung: Europa als Friedensprojekt

 

 Mich hat dieses Bild persönlich gepackt und mich an einen wichtigen Punkt in meiner eigenen Biografie erinnert. Die Erinnerung hat zu tun mit zwei Briefen aus der Nachkriegszeit, die mir bis heute Richtschnur sind. Der eine wurde im März 1945 und der andere 1948 ge¬schrieben. Beide haben meine Großväter ihren Familien und ihren noch ungeborenen Enkeln als Vermächtnis zugedacht. Der erste Brief stammt von meinem Großvater väterlicher¬seits, kurz bevor er in der Nähe von Stettin von Nazi-Schergen umgebracht wurde, weil er Befehlen, eine Volkssturm-Einheit gegen russische Panzer zu führen, nicht folgen wollte. Es war ein Abschiedsbrief. Der zweite Brief wurde von meinem Großvater mütterlicher¬seits geschrieben, der sich drei Jahre nach dem Krieg mit der Hitlerzeit auseinandersetzte. Diese beiden Briefe haben mich der Politik nahe gebracht. Und das war auch der Zeit¬punkt, als ich in die SPD eintrat.

 

 Ich gehöre der ersten Generation meiner Familie an, die nicht auf den Schlachtfeldern dieses Kontinents verheizt wurde. Aufge¬wachsen bin ich im zerstörten Hamburg. Ich habe damals die Folgen des Krieges täglich vor Augen gehabt. Krieg ist für mich nicht abstrakt. Und ich möchte nicht, dass zukünftige Enkel wie ich solche Abschiedsbriefe von ihren Gro߬vätern lesen müssen.

 

 Für deutsche Sozialdemokraten ist Europa immer ein Traum gewesen. Die Idee eines geeinten und friedlichen Europas bewegt uns seit dem Heidelberger Parteitag 1925. Europa ist für uns immer mehr gewesen als eine Währungsunion, ein Zentralbanksystem, ein Binnenmarkt und eine Clubveranstaltung von 25 Männern und 2 Frauen im europäischen Ratsgebäude.

Der Wert Europas bemisst sich für uns nicht an den Zinssätzen an den internationalen Finanzmärkten. Europa ist Rechtsstaatlichkeit. Kulturelle Vielfalt, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Pressefreiheit. Europa ist Aufklärung.

Europa ist die Trennung von Staat und Kirche. So etwas gibt es auf der ganzen Welt nicht. Ich empfinde das immer noch als ein fantastisches Geschenk.

 

 Ich weiß: das ist eine Begründung aus der Ver¬gangenheit. Schon für die Generation meiner Kinder bedeutet Europa nicht mehr das gleiche wie für mich. Für sie ist Frieden in Europa selbstverständlich, trotz aller Kriege um uns herum.

 

 

 III. Rückblick auf die Reise nach Warschau: Sind wir noch ein Volk guter Nachbarn?

 

 Und gerade jetzt wird Europa sehr viel mehr mit Krise als mit Hoffnung verbunden. Die Europäische Union scheint für viele seiner Bürgerinnen und Bürger so unattraktiv wie lange nicht. Seit Jahren wetten Spekulanten auf das Herausbrechen einzelner Mitglieds¬staaten und auf den Zerfall des Euroraums. In manchen Ländern wird über den Austritt ge¬redet, wie in Großbritannien. In anderen Ländern, wie der Türkei, sind nur noch 40% der Bevölkerung für einen Beitritt. Und in manchen Ländern wird diskutiert, ob nicht einzelne Länder wie Griechenland ausscheiden sollen.

Auch in Deutschland wird dies diskutiert.

 

 Ich komme gerade von einer Reise nach Warschau, das war wie eine europäische Frischzellenkultur. Die Polen sind erst seit 2004 in der EU, und sie sind begeisterte Europäer. Ihr Enthusiasmus hat mich daran erinnert, wie es auch sein könnte. Als ich Freitag am Denkmal „Warschauer Ghetto“ stand, dachte ich an Willy Brandt, an seinen Kniefall, an seine visio¬näre Ostpolitik und an seinem Satz von Deutschland als Volk der guten Nachbarn.

Ich habe mich gefragt: Sind wir das eigentlich im Moment? Sind wir Deutschen ein Volk guter Nachbarn? Oder sind wir gerade dabei, das zu verspielen? Wir müssen uns hüten vor Besser¬wisserei und erst recht vor Diktat. Und wir müssen uns hüten vor Mitleidlosigkeit und Egoismus.

 

 

 IV. Die verweigerte Solidarität & das böse Spiel mit dem Ressentiment

 

 In Deutschland köchelt schon seit längerem ein latenter (und manchmal auch

expliziter) Un-wille, in Not geratene Nachbarn zu retten. Diese verweigerte Solidarität tarnt sich, Robert Menasse beschreibt es wunderbar, hinter der Kritik am europäischen Demokratiedefizit und am angeblichen „Eliten-Projekt“ Europa. Menasse entlarvt, dass wer heute „Demo¬kratie-Defizit“ und „Eliten-Projekt“ sagt, oft eigentlich „Nationalstaat“ meint und „Ich will meine D-Mark zurück“. In Deutschland sind es heute die Wutbürger mit Krawatte und Doktortitel, die diese Wörter besonders oft sagen.

 

 Es wird unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass sie nicht die Debatte über die Rettung des Euros bestimmen. Denn der Furor der Steuer¬zahler ist leicht zu entfachen. Und das Spiel mit der Angst und dem Ressentiment ist ein böses Spiel. Auch Angela Merkel hat dieses böse Spiel mitgespielt, als auch sie vor zwei Jahren ge¬meinsam mit der BILD-Zeitung das Bild von den faulen Griechen, Spaniern und Portugiesen zeichnete, als sie  - frei von Kenntnissen über die Fakten – von Urlaub und Rente in diesen Ländern fantasierte. Länder, die trotz angeblich allein eigenem Verschulden der Misere dennoch von deutschen Steuerzahlern gerettet werden müssen, da dieses alternativlos sei (nach dem Prinzip: „Stirbt der Euro, stirbt Euro“). Die Rede von der Alternativlosigkeit, bizarre Pointe der Geschichte, hat tatsächlich eine „Alternative“ hervorgerufen, sie nennt sich „Alternative für Deutschland“, und sie spielt offen mit dem Feuer des Nationalismus.

 

 

 V. Die Wiederherstellung der europäischen Solidarität

 

 Wie kann es gelingen, den Geist des Nationa¬lismus wieder in die Flasche zu kriegen? Es geht doch um unsere Nachbarn! Und wenn jemand glaubt, Athen ist weit weg, dann täuscht er sich. Ich hatte die Gelegenheit, vor ein paar Wochen mit dem griechischen Staats-präsidenten zu reden. Herr Papoulias, ein sehr beeindruckender älterer Herr, 83 Jahre alt, mit 14 im Widerstand gegen Nazideutschland. Sein erster Satz an mich war, er hätte im Wider¬stand gegen Deutschland und dann in dem schlimmen griechischen Jahr 1946 gehungert. Zweiter Satz: Er würde heute mit Erschrecken feststellen, dass sein Volk wieder hungert.

 

 Das heißt, was wir in Griechenland erleben ist nicht mehr die Frage: Wie stabil sind die im Euro? In Griechenland stellt sich die Frage nach der Stabilität ihres gesellschaftlichen und politischen Ordnungssystems. Mit Faschisten auf der einen Seite und Linksextremisten auf der anderen Seite.

Und deshalb sind die Ein¬lassungen von Herrn Dobrindt & Co. auch so abwegig.

Die sollen dort hinfahren und sich er¬kundigen, was in diesem Land passiert mit den Menschen.

 

 Und sie sollten ihre eigene Geschichte nicht vergessen. Robert Menasse erinnert uns in seinem „Europäischen Landboten“ an eine Zeit, als Deutsche gehungert haben – als Konsequenz aus einem mörderischen Krieg, den sie selber entfesselt haben. Menasse er-innert uns an die Gründung der ersten supra¬nationalen Institution in Europa, der Orga-nisation für europäische wirtschaftliche Zu¬sammenarbeit, die die Aufgabe hatte, die Mittel des Marshallplans zu verteilen. Er er¬innert daran, dass der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder „wesentlich durch eine akkordierte, supranationale Wirtschaftspolitik möglich gemacht wurde.“

 

 Menasse erinnert uns auch an die Anfänge der Europäischen Union, an die

1951 gegründete Montanunion, für die es – nur wenige Jahren nach dem Krieg – notwendig war, dass Frank¬reich Souveränitätsrechte an Deutschland ab¬treten musste. An ein Land, das Frankreich eben noch besetzt und gedemütigt hatte, ein Land, das in der öffentlichen französischen Meinung nicht mehr war als eine nieder¬gerungene Bande von Kriminellen. Dennoch stimmt das Französische Parlament zu. Menasse schreibt:

„Gerade in Deutschland sollte man sich heute mit größter Dankbarkeit daran erinnern.“

 

 Ich möchte an dieser Stelle mit großer Dank¬barkeit noch an ein anderes Ereignis erinnern: Wir Deutsche haben das Wunder der Wieder¬vereinigung bekommen. Daran waren Staats-männer beteiligt. Insbesondere Gorbatschow und auf der amerikanischen Seite Bush Senior. Aber es waren auch alle kleineren Länder um uns herum, die sich gefreut haben über die deutsche Wiedervereinigung. Die waren alle einverstanden. Obwohl sie mit uns ja histori¬sche Erfahrungen gemacht haben, die nicht so gut gewesen sind:

Dänemark 1940, Nieder¬lande 1940, Belgien, Luxemburg, Frankreich 1940, Österreich 1938, Tschechien 1938, Polen 1939. Und die waren plötzlich für die deutsche Wiedervereinigung. Aus zwei Gründen: Sie hatten keine Angst mehr vor uns. Und: Sie haben uns über mehrere Jahrzehnte als sehr solide und sehr verlässliche Europäer kennen¬gelernt. Wenn es jetzt um Solidarität mit Nachbarstaaten geht, dürfen wir nicht an¬fangen, mit Euro und Cent zu rechnen.

 

 

 VI. Deutschland profitiert vom gemeinsamen Währungsraum

 

 Doch wenn es nötig wird, können wir es. Wir können den Gegnern der Euro-Rettung in Euro und Cent vorrechnen, warum sie Unrecht haben. Und es ist offenbar nötig, glaubt man einer Umfrage, nach der 65 Prozent der Deutschen meinen, dass es ihnen besser gehen würde, wenn es die D-Mark noch gäbe. Die Bertelsmann-Stiftung hat gerade eine Studie veröffentlich, die zeigt, wie stark Deutschland vom Euro profitiert. Das Ergebnis: „Selbst wenn Deutschland einen Großteil seiner Forderungen abschreiben müsste, (...) über¬wiegen die wirtschaftlichen Vorteile aus der Währungsunion nach wie vor.“ Die Studie kommt weiter zum dem Ergebnis: Ohne den Euro würde das Wachstum des BIP zukünftig jedes Jahr rund 0,5 Prozentpunkte geringer sein. Und: Wenn man die Wachstumsvorteile aus der Euro-Mitgliedschaft zusammen¬rechnet, ergibt sich aus dieser Mitgliedschaft für Deutschland ein Gewinn in Höhe von fast 1,2 Billionen Euro.

 

 

 VII. Nicht die Regierung der Nationalstaaten sind das Problem, sondern ihre konservative Politik

 

 Ich will noch einmal zu Robert Menasse zurück, zu seinem Text „Der Europäische Landbote“. Er verdient den Preis „Das Politische Buch“ in meinen Augen schon alleine dafür, einmal all die Ressentiments gegen die Brüsseler Büro¬kratie unter die Lupe genommen zu haben, die in den Begriffen „Regulierungs-Wahn“, „Büro¬kraten-Moloch“ und „Beamten-Diktatur“ kulminieren. Ein wunderbares Stück Sprach¬kritik. Aber: Wir müssen uns mit dieser Angst vor dem Brüsseler „Moloch“ auseinander¬setzen. Mir scheint, es ist die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor dem Verlust von demokratischer Selbstbestimmung. Doch wo¬raus speist sie sich? Robert Menasse liefert mir mit seinem durchaus provokativen Text eine Steilvorlage zum Widerspruch, die ich gerne nutze, um zu zeigen, was für mich sozial¬demokratische Europapolitik ist.

 

 Menasse verortet das „eigentliche“ Demo¬kratie-Defizit in der Tatsache, dass in der Europäischen Union die nationalen Regie¬rungen zu viel zu melden haben. Ich nehme es Robert Menasse gar nicht übel, dass er mich abschaffen möchte, noch bevor ich gewählt bin. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass die Regierungen der Nationalstaaten das Problem sind. Ich glaube, es kommt durchaus darauf an, von wem die Nationalstaaten regiert werden und was für Politik gemacht wird. Wenn eine Mehrheit konservativer Regierungen die Europäische Union auf einen Binnenmarkt re¬duziert und die Staaten Europas zu Konkurrenten im Wettbewerb um die niedrigsten Steuern und die billigsten Arbeits¬kräfte macht, dann ist das ein Problem. Wenn diese Regierungen in der Furche liegen und sich wegducken aus Angst, die Finanzmärkte zu erzürnen, die sie selbst entfesselt haben, dann ist das ein Problem.

 

 VIII. Soziale Ungleichheit bedroht die Demokratie (Sofortprogramm gegen

Jugend-arbeitslosigkeit)

 

 Wir müssen anfangen, von den Kosten der Un¬gleichheit in Europa zu sprechen. Diese Un-gleichheit wird gerade noch weiter verschärft. Wir wissen, dass die einseitige Austeritätspolitik in eine Abwärtsspiral führt.

Die von der EU verordnete Krisenmedizin hat viele Staaten noch tiefer in wirtschaftliche Probleme gestürzt. Das hat dazu geführt, dass erstens die Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt immer weiter steigen.

Und zweitens, sich die Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhe bewegt.

Insbesondere die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit tut mir in der Seele weh. Was für eine Dramatik, wenn rund 50% der Jugendlichen eines Landes, wie etwa in Spanien, ohne Arbeit sind, ohne Perspek-tiven. Die Internationale Arbeitsorganisation spricht bereits von einer „verlorenen Generation“.

Deshalb fordere ich ein Sofortprogramm gegen die Jugend¬arbeitslosigkeit in ganz Europa. Wir brauchen Lohnkostenzuschüsse aus EU-Töpfen. Damit Europas Jugend eine Zukunft hat.

 

 

 IX. Das Prinzip der Gerechtigkeit wieder in Kraft setzen (Marshallplan für

Europa)

 

 Das wichtigste ist, den Menschen in unseren Ländern wieder Hoffnung zu geben. Hoffnung darauf, dass sich Anstrengungen und Fleiß lohnen. Dass es gerecht zugeht. Dass einerseits niemand aus der Verantwortung für das Gemeinwohl entlassen wird. Dass andererseits all denjenigen geholfen wird, die unverschuldet in Not kommen. Dass die Würde aller gewahrt bleibt. Das können wir erreichen mit einer Art Marshallplan für Europa. Wie kann ein solcher Marshallplan für Europa aussehen? Wir Sozial¬demokraten fordern einen Europäischen Investitions- und Aufbaufonds zur Förderung eines nachhaltigen und tragfähigen Wachs-tums. Das geht kurzfristig, ohne zusätzliche Aufwendungen. Wir können die bisher unge-nutzten Mittel aus dem Strukturfond der EU verwenden. Wir plädieren auch für die Ein-führung von Europäischen Projektanleihen, um dafür zu sorgen, dass zukünftig wieder mehr privates Kapital in die Realwirtschaft investiert wird, statt wie momentan den produktive Kreisläufen entzogen zu sein.

 

 

 X. Primat der Politik & Regulierung der Finanzmärkte

 

 Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurück zu gewinnen, reicht es nicht, nur hier und da an einer Stellschraube zu drehen, wie die konservativen Parteien Europas es wollen. Worin liegt denn der Vertrauensverlust be¬gründet, den Europa gerade erfährt? Mir scheint, verloren gegangen ist insgesamt der Glaube, dass Politik für die Menschen etwas zum Besseren bewirken kann. Um aus dieser Vertrauensfalle herauszukommen, brauchen wir einen großen Wurf. Dazu gehört, das Primat der Politik vor der Wirtschaft durch¬zusetzen. Damit die Menschen wieder spüren, dass sie – wie es in einer Demokratie selbst-verständlich ist – das Sagen haben. Damit das Interesse der Allgemeinheit Vorrang hat vor dem Interesse Einzelner.

 

 Die gegenwärtige Krise Europas ist ganz wesentlich eine Folge der Finanzmarktkrise. Die öffentliche Verschuldung in Europa ist nach 2008 vor allem auch deshalb gestiegen, weil Staaten gezwungen waren, Banken zu retten und für faule Kredite im Privatsektor zu haften. Wir müssen der Kanzlerin deutlich widersprechen, wenn sie wieder damit an¬fängt, die Griechen etc.

hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Das lenkt ab von den strukturellen Problemen und es unterwandert die europäische Solidarität.

 

 Der Hauptkonflikt in dieser Krise liegt doch nicht zwischen den Bürgerinnen und Bürgern Nordeuropas und denen Südeuropas. Er liegt zwischen den Jongleuren auf den dere-gulierten Finanzmärkten und den hart arbeitenden Bürgerinnen und Bürgern Europas, die sich zunehmend um ihre Zukunftschancen betrogen sehen. Es muss jetzt darum gehen, diejenigen an den Krisenkosten zu beteiligen, die die Krise verursacht haben und die von ihr profitieren. Die konservative Politik in Europa tut gerade das Gegenteil.

Sie sorgt dafür, dass die Banken unterstützt werden, und nicht die Bürgerinnen und Bürger. Durch ihr Zaudern und Zögern hat die schwarz-gelbe Koalition die EZB gezwungen, Staatsanleihen im Wert von über 220 Milliarden Euro zu kaufen und den Banken über eine Billion Euro zu 1 Prozent zu schenken. Banken werden zu Lasten von Staaten und Steuerzahlern saniert, ohne dass es zu einer durchgreifenden Regulierung und zur Vorsorge für zukünftige Krise kommt. Damit muss Schluss sein.

 

 Wir Sozialdemokraten wollen deshalb dafür sorgen, dass die Finanzmärkte demokratie-konform sind, statt, dass die Demokratie marktkonform ist. Und dafür sollten wir Prinzipien durchsetzen, die für das gesell¬schaftliche Zusammenleben wichtig sind:

 

 Erstens: Wer verantwortlich für eine Krise ist, der muss auch dazu beitragen, sie zu beseitigen. Daraus ergibt sich für mich: Wir brauchen eine europaweite Finanztrans-aktionssteuer.

 

 Zweitens: Risiko und Haftung müssen wieder zusammenfallen. Banken müssen scheitern können. Deshalb brauchen wir einen europaweiten Bankenfonds, den die Banken finanzieren, nicht die Steuerzahler.

 

 Drittens: Staaten dürfen nicht durch Banken erpressbar sein. Deshalb brauchen wir europaweit ein Trennbankensystem. Damit nicht Spekulanten die Einlagen der Bürger und Unternehmer gefährden können.

 

 Viertens: Gefahren müssen beherrschbar sein. Deshalb müssen wir auch die Schattenbanken regulieren.

 

 Fünftens: Unmoralische Geschäfte müssen untersagt werden: Wie reine Spekulationen mit Nahrungsmitteln und Energierohstoffen.

 

 Auch die Bekämpfung der Steuerflucht, legaler wie illegaler, ist enorm wichtig. Der EU gehen pro Jahr allein €1 Billion Steuern verloren. Geld, das statt auf den Cayman-Inseln oder den Bahamas geparkt, bei uns zu Haus dafür sorgen könnte, dass in Kindergärten, Schulen und Universitäten investiert wird. Sowie in Straßen, Schienennetze und Häfen – um unsere Wirtschaft nachhaltig auf die Beine zu stellen.

 

 

 XI. Kooperation statt Konkurrenz: eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Steuer¬politik

 

 Wir wissen inzwischen alle ziemlich genau, was der Konstruktionsfehler der Währungs¬union war. Sie wurde in den luftleeren Raum hineingesetzt, ihr fehlt das Fundament: die gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Steuer¬politik. Es wurden weder gemeinsame Ziele, noch gemeinsame Institutionen, noch gemeinsame Instrumente geschaffen. Im Ge¬genteil: Seit dem Ende der 80er Jahre setzte sich endgültig der Gedanke des Wettbewerbs und die Logik des Marktes durch. Der Wett¬bewerb der Standorte wurde zum Maß aller Dinge. Und er erwies sich als politischer und wirtschaftlicher Sprengstoff. Heute erleben wir die Folgen dieser Fehlkonstruktion. Sie lähmt unser Handeln in der Krise. Aus diese Lähmung müssen wir uns für alle Zeiten befreiten, und zwar mit einem großen Sprung in Richtung gemeinsame Wirtschafs-, Finanz- und Steuer¬politik. Von Angela Merkel habe ich bislang noch kein klares Bekenntnis dazu gehört; Robert Menasse hat den Eiertanz der Kanzlerin dazu sehr treffend geschildert.

 

 

 XII. Mehr Demokratie wagen auf EU-Ebene

 

 Und ja, wir haben ein Demokratie-Defizit in Europa. Das wird nicht erzeugt durch die Tat-sache, dass die nationalen Regierungen eine Rolle spielen. Das sollen sie meiner Meinung nach auch weiterhin, sie sind für die Gewalten¬teilung unerlässlich. Aber ich sehe durchaus ein Problem in der aktuellen Art, wie Krisenpolitik ausgehandelt wird. Warum kommt es den Bürgerinnen und Bürgern denn so vor, als bestimmten ferne Mächte ohne Legitimation über ihr Schicksal? Kein Wunder, dass das Gefühl der Unmündigkeit wächst, wenn die Regierungschefinnen und Chefs nur in Hinterzimmern darüber sprechen (können), was geplant ist, aus Angst, „die Märkte“ würden problematisch reagieren. Wenn chronischer Zeitdruck zum Argument dafür wird, dass parlamentarische Mitspracherechte ausgehebelt werden. Wenn also eine wirkliche öffentliche Aushandlung über die Krisenpolitik gar nicht stattfindet. Wie können wir also auf europäischer Ebene mehr Demokratie wagen?

 

 Wir müssen die Rechte des Europäischen Parlaments stärken. Wir fordern als erstes, dass das Europäische Parlament in Zukunft an den Europäischen Räten und den Euro-Gipfeln beteiligt und seine Stimme bei den Entscheidungen angehört wird.

 

 Wir wollen die Europäische Kommission zu einer Regierung  ausbauen, die vom Europäischen Parlament gewählt und kontrolliert wird und ggf. abge¬setzt werden kann.

 

 Wir finden uns auch nicht damit ab, dass seit den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 1979 die Wahlbeteiligung immer weiter gesunken ist. Es ist richtig, dass die europäischen Parteien für die Europawahl 2014 jeweils einen gemeinsamen Spitzen-kandidaten aufstellen, die oder der in allen EU-Ländern als Kandidat für die jeweilige Parteien¬familie antritt. Auf diese Weise kann es gelingen, eine europäische Öffentlichkeit her¬zustellen und einen europäischen Wahlkampf, der mehr ist als die Verlängerung nationaler Wahlkämpfe.

 

 Und wird werden als SPD in Zukunft nur einen Kommissionspräsidenten mittragen, der zuvor als Spitzenkandidat bei der Europawahl sein politisches Programm zur Wahl gestellt hat und der eine Mehrheit  im Europäischen Parlament bekommen hat.

 

 Ich folge Robert Menasse und sage: Lasst uns mehr Demokratie wagen, in dem wir mehr Europa wagen.

 

 

 XIII. Finale: Die historische Aufgabe: das Europa der Zukunft schaffen

 

 Vor uns liegt eine historische Aufgabe: die Ein¬heit  Europas als Projekt der Demokratie, des Friedens und des Wohlstands zu vollenden.

 

 Angela Merkel als Symbol des nationalen Egoismus steht für das Europa von

gestern: für das Europa des Marktes und der Standort¬konkurrenz. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass die Sozialdemokratie für das Europa von morgen steht.

Für ein Europa, das Gemeinwohl vor Profitmaximierung stellt.  Für ein Europa, das Wettbewerbsfähigkeit als gemeinsames Ziel versteht. Für ein Europa, das nicht auf Konkurrenz aufbaut, sondern auch Koope¬ration. Ich bin mir sicher: Eine solche Vision von Europa reißt auch die junge Generation mit."

 

 

 


paru dans Libération

 

http://www.liberation.fr/monde/2013/01/23/une-europe-sans-tous-ses-etats_876273

 Une Europe sans tous ses Etats

23 janvier 2013 à 22:16
Par BLAISE GAUQUELIN (à Vienne)

En gobant d’un coup l’essai de l’Autrichien Robert Menasse, on a l’impression d’avaler l’équivalent littéraire d’une canette de Red Bull : c’est vite lu et on en ressort boosté. Depuis sa parution, en septembre, Der Europäische Landbote , littéralement «le Messager du pays européen» (1), vendu à 16 000 exemplaires, provoque beaucoup de débats dans le monde germanique sur la manière de construire un projet radicalement fédéral.

L’auteur, bardé de prix, y juge nécessaire la suppression du Conseil et ses réunions à 27 paralysantes. D’ailleurs, dans son Europe post-nationale, le polémiste au style vif et concis n’épargnerait que les régions. Finie l’Allemagne, finie l’Espagne, finis les pays Baltes et autres microrépubliques des Balkans. Car, au nom de quelle règle immuable, le Tyrol et la Corse devraient-ils indéfiniment en référer à Vienne ou à Paris ?

«L’Europe a commencé à écrire le dernier chapitre de l’histoire des nations, écrit Robert Menasse dans un mail adressé à Libération. C’est logique : plus les nations abandonnent de leur souveraineté au profit d’institutions supranationales dans la communauté européenne, plus elles s’affaiblissent et finissent par mourir.» Pour l’auteur, les élites actuelles tuent à petit feu le projet européen. Angela Merkel ne sait pas ce que c’est que l’Europe et David Cameron bloque les décisions de la zone euro pour protéger les seuls intérêts de sa City. Et que dire de ces journaux «sérieux» qui s’indignent désormais comme des tabloïds dès lors qu’il faut mettre la main au porte-monnaie. Seul Paris, «où la République l’emporte sur la nation», semble conserver dans la tempête un brin de vision historique.

«La France est immensément importante pour la politique européenne, estime en effet l’essayiste. Il n’y aurait pas eu de politique européenne s’il n’y avait pas eu d’accord au Parlement français sur le plan Schuman. La puissance victorieuse a accordé des droits de souveraineté à son agresseur allemand qui était à terre.»

En Autriche, on nomme ironiquement cette France-là «Grande Nation». C’est pour moquer sa manière pompeuse de donner des leçons à tout le monde. Mais quitte à faire ricaner encore, autant sauver l’Europe une deuxième fois, semble nous dire Menasse.

(1) «Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas» Edtion Zsolnay, 111 pp.

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